Das große Haus

So lange ich hier auch schon wohne,
ich kenn nicht jede Mietpartei
und schert mich überdies die Bohne
des lieben Nachbarn Konterfei.

Von ein’gen nur, die in den Jahren
ich öfter auf der Treppe traf,
hab ein paar Fakten ich erfahren,
die mir geläufig wie im Schlaf.

Doch die sind leicht hier aufzuzählen,
dabei kommt kaum ein Dutzend raus,
drum denk ich, ohne euch zu quälen,
nenn sie ich euch fürs ganze Haus.

Und ohne wen bevorzuzugen,
beginn ich mit Familie Wang,
die einst, so weit die Füße trugen,
die Seidenstraße lief entlang.

Was immer auch sie denn bewogen
zu diesem schicksalhaften Schritt,
sie kam in dies Quartier gezogen
und Meister Kung, ihr Abgott, mit.

Die Singhs aus gleichfalls fernen Breiten,
es sei Europa denn das Maß,
auch irgendwann herein hier schneiten
vom Fuße des Himalajas.

Sie halten heilig ja die Kühe
nach ihrem alten Hindu-Brauch
und nehmen mangels Rinderbrühe
die von Geflügel gerne auch.

Dazu aus Rio diese Leute,
die fröhlich, aber ohne Knall,
doch wilder Leidenschaften Beute
im narrenfreien Karneval.

Cortés dann, Vater, Mutter, Söhne,
führn auf Hernando sich zurück,
der, dass mit Reichtum er sich kröne,
Kulturn zerstört und Menschenglück.

Die Sonnyboys der ersten Güte
sind aber Grants im dritten Stock –
den Schalk beständig im Gemüte
und den Revolver unterm Rock.

Erfrischend, wie sie Kindern gleichen,
naiv und ferne des Kalküls,
und dennoch um kein Jota weichen
vom Dünkel ihres Selbstgefühls.

Iwanows auch in diese Sphären
verschlug es auf der Lebensbahn,
die mehr als Marx wohl noch verehren
die Gottesmutter von Kasan.

Good afternoon!, tönt mir entgegen
gemessen britisch oft ein Gruß,
dem meiner, Höflichkeit zu pflegen,
folgt hochhannoversch auf dem Fuß.

Bis oben, wo die Treppen enden,
muss Herr Abebe immer rauf –
was andre aber lästig fänden,
stärkt ihn fürn Eritrea-Lauf.

Nicht grade schwer von Öl-Millionen,
doch mit ‘nem Burnus gut betucht,
Herr Kaid an tausend Tankstationen
‘nen Job als Oberzapfer sucht.

Treppauf, treppab die Nationen,
so wie der Zufall sie gewählt,
und unter allen, die hier wohnen,
Familie Meier auch nicht fehlt.

Und dieser ganze bunte Haufen,
dies menschliche Konglomerat,
muss ständig sich zusammenraufen,
dass sich und andern es nicht schad.

Nicht dass sie etwa boshaft wären
und ständig aufgelegt zum Streit –
mit Liebe und Respekt verkehren
in ihrem Heim sie jederzeit.

Und Sitten, die bei ihnen gelten
nach ihrer und nach Völkerart,
noch niemals sie in Frage stellten
in andrer Leute Gegenwart.

Sie leben friedlich mit den Frauen,
die Glück und Leid mit ihnen teiln,
und zärtlich auf die Kinder schauen,
die fröhlich durch ihr Dasein eiln.

Respekt bezeigen sie den Alten,
zumal dem silbergrauen Haar,
die Weisheit in den Händen halten
als Schatz, der niemals größer war.

Doch Streit? Wie sollte der entstehen?
Hat jeder nicht sein Herz im Griff,
um nicht zum Äußersten zu gehen
selbst hier, auf diesem Narrenschiff?

Instinkte, sag ich nur, Instinkte –
die sind der Seele eingebaut,
und kaum, dass da ein Lämpchen blinkte,
entladen sie, was aufgestaut.

Das Lämpchen? Eines Volkes Ehre,
die einer zarten Pflanze gleicht,
der schon die allerkleinste Schwere
zum Knicken und Sichbiegen reicht.

Die ist nie völlig auszujäten,
wie sehr man gärtnert auch daran –
wer fühlt sich auf den Schlips getreten
und spielt sofort den wilden Mann.

Und plötzlich platzt in diesen Frieden
der Lärm von Aufruhr und Krawall,
der Geister ruft, die längst verschieden,
Posaunen vor der Feste Fall.

Der Hausordnung, die man stillschweigend
so lange eingehalten hier,
den bösen Stinkefinger zeigend:
Was braucht’s noch so ein Wischpapier?

Wird nun der Faustschlag zum Gesetze
und Zwietracht Hüt’rin der Moral,
dass man in blindem Hass verhetze,
die schön gegrüßt man doch einmal.

Und ist kein Ruhen und kein Rasten,
bis dieser Bau zusammenbricht
wie morsche Telegrafenmasten,
in die der Wurm sich Gänge sticht.

Längst liegt der Flur in Schutt und Asche
und Leichen unter sich begräbt,
bevor der Sani mit der Tasche
zum Flickwerk an Verletzten strebt.

Erst wenn an Trümmern und an Toten
man sattsam sein Genüge fand,
besinnen sich die Idioten
auf ihren letzten Rest Verstand.

Sondieren. Reden. Weiße Fahne.
Ein schwer verhandelter Vertrag
mit lauter Klauseln erster Sahne
für Frieden bis zum Jüngsten Tag.

Die Nachbarn, Tränen in den Augen,
sie sammeln ihre Toten ein.
Doch Tinte nicht noch Träne taugen –
bald werden beide trocken sein.