Fremde Nähe

Fremde NäheGlaubt ja nicht, dass ich gerne schwätze
von mir nur immer im Gedicht
und nicht auch eine Meinung schätze,
die klug für ihre Sache spricht.

Doch wie das auf die Reihe kriegen?
Ich gebe ja die Verse vor,
die lautlos durch die Lüfte fliegen
ins hoffentlich geneigte Ohr.

Und da ich, Leser, euch nicht kenne
und nichts von eurem Leben weiß,
beschränke ich mich wie ‘ne Henne
aufs Brutgeschäft des eignen Eis.

Das hat ja auch genügend Tücke!
Wer spräch von sich so frank und frei,
dass ungeschminkt und ohne Lücke
er schilderte sein Konterfei?

Man pickt ja immer die Rosinen
sich aus des Alltags zähem Teig,
um sie der Menschheit anzudienen
als seines Glückes Fingerzeig.

Mit einem Wort: Man kann nichts sagen,
worauf es Brief und Siegel gibt –
vom Leser nicht, dem fremden, vagen,
vom Sänger nicht, der Worte siebt.

Wirft man da konsequenterweise
die Grillenflinte nicht ins Korn
und stiehlt sich heimlich, still und leise
beschämt hinweg vom Musenborn?

Gewiss nicht. Denn wo Hermes waltet,
im weiten Reich der Fantasie,
hat stets die Welt man umgestaltet,
dass man ihr größren Reiz verlieh.

Sie eins zu eins so zu erfassen,
wie wirklich sie vor Augen liegt,
sei dem Vermesser überlassen
(der’s auch nicht auf die Reihe kriegt).

Der Dichter schreibt nicht Protokolle,
Bilanzen nicht und Logelei’n;
er hält es lieber mit Frau Holle,
lässt Federn auch mal Flocken sein.

Und für sein buntes Textgewebe
genügte ein Gerät ihm schon:
Die Wasserwaage. Schön in Schwebe,
und doch ein Maß der Präzision.

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