Erkenne dich selbst

Erkenne dich selbstWürd jemand für ‘nen Schuft sich halten,
‘nen Halsabschneider, Tagedieb?
Nein, Augen hoch und Hände falten –
der Schlimmste gibt sich schrecklich lieb.

Treibt täglich seine Gaunereien,
zieht den und jenen übern Tisch
und würde stets „Ich war’s nicht!“ schreien,
dass er Justitia entwisch.

Mit andern, die vom Wege weichen,
geht immer hart er ins Gericht,
indes er sich und seinesgleichen
stets frei von Schuld und Sünde spricht.

Das ist die Crux in unserm Leben:
Wir glotzen immer vorne raus,
um nie uns Rechenschaft zu geben
über dies dunkle Hinterhaus.

Es wimmelt nur so von Gerechten
in dieser unvollkommnen Welt,
die lammfromm ihre Schafe schächten,
damit ihr Wandel Gott gefällt.

Und fröhlich an die Gurgel fahren
dem Nächsten um ein Körnchen Reis,
doch ein Gewissen sich bewahren,
das sich im Stand der Unschuld weiß.

Die Weltgeschichte nur ein Schlachten,
‘ne Orgie nur von Tod und Leid,
dass aus der Erde Friedhofspachten
erwürbe sich die Obrigkeit?

So haben aufgeklärte Geister
es wohl bis gestern noch gedacht,
doch heute, hochverehrte Meister,
hat Neues man ans Licht gebracht.

Denn endlich sind die tiefsten Triebe
aus Seelenschlamm hervorgewühlt –
und rein und redlich auch die Liebe,
wie man sie für sich selber fühlt.

Die ist so stark, dass notgedrungen
für andre nichts mehr übrig bleibt
und man der eignen Niederungen
Gestank auf deren Konto schreibt.

Man könnte sagen, dass der Heil’gen
Gemeinschaft wunderbar präsent –
die, die sich gern am Schein beteil’gen,
so wie man’s von der Kirche kennt.

Uns ist, sagt wer, das Wort gegeben,
zu bergen der Gedanken Lauf.
Genau. Und ganz besonders eben,
dass man als edel sie verkauf.

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