Fehlurteil

diogenesAls ob sie immer schrieben, schrieben
mit schwammig schwielenloser Hand,
von ihrer Leidenschaft getrieben,
so sengend wie ein Steppenbrand.

Um unentwegt zu fabrizieren
Kleinod(i)en von erlesnem Glanz
(oder, Herrn Müller zu zitieren:
Gedichte und so ‘n Firlefanz.)

Und andres würde sie nicht scheren
als die erhabene Mission,
ihm ständig Verse zu verehren,
dem Künstler auf dem Götterthron.

(Apoll.) Ein Vorurteil! Poeten
(ich habe selbst mich informiert)
verschmähen durchaus diesen steten
Schreibfluss als manisch-antiquiert.

Sie widmen sich auch andern Dingen –
Musik, Theater, Malerei,
und machen so vom vielen Singen
sich ab und zu die Birne frei.

(Viel weiter gehen die Int’ressen,
ich habe mich hier sehr beschränkt:
Gar mancher hat ans Zähln und Messen
sein Herz mit Inbrunst auch gehängt.)

Doch mehr als diese Mußefüller
beschäftigen den Lyricus
Probleme, wie sie auch Herr Müller
in seinem Alltag wuppen muss.

Falls er zum Beispiel nicht vom Schreiben
gerad sein Dasein fristen kann,
muss er noch ein Gewerbe treiben,
dass es ernähre seinen Mann.

Und darf er das mit Links mal eben
erled’gen, da im Kopf schon schwirrn
Gedanken wie: nach Hause streben,
das Flügelross zum Fluge schirrn?

Natürlich nicht. Nur volle Pulle
ist er dem Brötchengeber lieb,
sonst holt der aus der Lohnschatulle
statt Knete ‘nen Entlassungsschrieb.

Und wie sieht’s aus im Heim, im trauten?
Besorgen Götter da den Putz?
Befrein die Ecken, die versauten,
vom ständig wiederkehr’nden Schmutz?

Wie sieht es aus mit Essenkochen,
mit Abwasch, Bügeln, Knopfannähn?
Wie, wenn ein Haken abgebrochen,
‘ne Schraube in die Wand zu drehn?

Wird er ‘s entrüstet von sich weisen,
weil’s gegen seine Ehre geht?
„Um Höhres muss mein Dasein kreisen –
bin kein Faktotum, bin Poet!“

Ach was! Er wird sein Bestes geben,
dass er im Alltag sich bewährt.
Da, weiß er, spielt das wahre Leben –
vom dem auch seine Kunst sich nährt.

Nun, Les’rin, muss ich aber schließen,
der Haushalt fordert seine Pflicht.
‘s ist Dienstag, also Blumengießen –
ich hör sie schon: Vergissmeinnicht!

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