Gardinenpredigt

Gardinenprdigt (Adolph von Menzel)Wenn ich sie so im Dämmerlicht betrachte:
Im Grunde weiß ich kaum etwas von ihr,
nicht wer – und wann – sie hier in Stellung brachte,
nicht, wo sie herkam: Straße, Haus, Quartier.

Genug, dass grad ich ihren Namen kannte –
ihr ganzes Wesen lag für mich darin.
Besaß sie Freunde irgendwo, Verwandte?
Die Frage kam mir niemals in den Sinn.

Nur dieses Wort ist sie für mich gewesen,
ein Luftgebilde ohne Fleisch und Blut,
so wie Gedrucktes wir in Büchern lesen,
das farblos auf der Wirklichkeit beruht.

Ich hab sie nicht mal richtig angesehen,
nur wie zerstreut durch sie hindurchgeschaut,
als würd sie mir da wohl im Wege stehen,
doch nur als Schatten ohne Bein und Haut.

Die Augen sind mir endlich aufgegangen,
so plötzlich, wie man wohl aus Trance erwacht:
Als Blickfang hat sie immer da gehangen
und so mich praktisch unsichtbar gemacht

Für Bürger, die spaziern, und Bürgerinnen,
dern Neugier so ein helles Fenster weckt –
wobei die ungetrübte Sicht von drinnen
sie andrerseits mir züchtig nie verdeckt.

Da bauscht sie luftig sich mit ihren Falten,
dass ständig sich der Maschen Netz verschiebt,
um hier und da ein wenig einzuhalten,
wenn es dem Wind im Türspalt so beliebt.

Und dann, als ob es ihr egal nicht schiene,
dass ich auf einmal ihr Beachtung schenk,
lässt ihren Saum sie fliegen, die Gardine –
kokett gewiss, doch etwas ungelenk.