Nachbarin Sphinx

Nachbarin SphinxHat sie mich heute angesehen?
Nahm meinen Schatten hier sie wahr,
so wie ich sah spazieren gehen
ihr unsichtbares Augenpaar?

Ich kann den Blick nicht von ihr wenden,
wenn sie sich aus dem Rahmen beugt
und ohne Unterleib und Lenden
wie eine Sphinx ins Dunkel äugt.

Wobei, von dieser nicht verschieden,
sie nie wohl Sehenswertes fand,
starrt ja auch die der Pyramiden
nur Löcher in den Wüstensand.

Doch scheint auch sie mir zu umgeben
‘ne Aura der besondren Art,
von der den Schleier aufzuheben,
ich wünscht mir ihre Gegenwart.

Würd, auf die Probe mich zu stellen,
ein Rätsel sie mir präsentiern,
und ließ mich, könnt ich’s nicht erhellen,
die kaum errungne Gunst verliern?

Das sollte mich nicht sehr verdrießen,
droht heut ja nicht mehr das Schafott,
höchstens ‘ne Hand, aufs Haupt zu gießen
die Reste aus dem Pinkelpott.

(Was leiblich leidlich zu ertragen,
wenn’s auch die Seele sicher stört,
die ja zu ihrem Wohlbehagen
weit mehr auf Rosenwasser schwört.)

Jetzt hat sie sich zurückgezogen!
Als wär ein Tintenfleck versiegt
auf einem dicken, gelben Bogen,
der bündig auf der Scheibe liegt!

Ließ nur dem Auge ‘ne Gardine,
(von hier gesehn) nach rechts gerafft.
Theaterpause. Leidensmiene
des Herrn, der auf die Szene gafft.

Ach, dass hier drüben sie mich sichte,
die Hoffnung ist doch gar zu dumm!
Guckt einer, der im Rampenlichte,
denn je bewusst ins Publikum?

In diesen Dämmer einer Masse,
die stumm ihm folgt, bewegt-gebannt,
Abonnement und Abendkasse –
dem Mimen aber vierte Wand?

Und wie ein Phönix auferstanden,
am Fenster wieder die Gestalt!
Wie soll ich bei ‘ner Lady landen,
die so mobil durchs Zimmer wallt?

Da wird sich kein Kontakt ergeben;
die Straße trennt, asphaltner Styx.
Es ist so, wie es ist im Leben:
Das meiste geht wohl in die Büx.

Doch lass den Blick ich weiter schweifen
zu der Schimäre vis-à-vis.
Man soll am Missgeschick ja reifen.
Womöglich auch die Poesie?

 

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