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Abschied vom Jenseits

Abschied vom Jenseits
Ein Lehrgedicht
(s. Allan Brecht, Abschied vom Jenseits, unter “Buchempfehlungn”)

Ein Mensch, der sich seit vielen Jahren
übers Danach den Kopf zerbricht,
will endlich jetzt mit grauen Haaren
‘ne Antwort finden, die besticht.

Zu gerne möcht den Schatz er heben,
der immer noch im Dunkeln liegt:
Gibt’s so was wie ein nächstes Leben
und wenn, wie wird der Tod besiegt?

Was dazu uns die Schriften lehren,
die auf der Welt man heilig heißt,
konnt ihm die Zuversicht nicht mehren
in seinem tiefer bohrnden Geist.

Und auch die ohne Götterwesen
die letzten Dinge angedacht,
die Weisen hatte er gelesen
und keinen letzten Fund gemacht.

Dort viele himmlische Mirakel,
hier die der Geisteswissenschaft,
in beiden Fällen zum Debakel
der ungetrübten Urteilskraft.

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Wenn die Erleuchtung nicht verschaffen,
was bleibt dann noch als Möglichkeit?
Natur statt Denker und statt Pfaffen,
Natur, von Fantasien befreit!

Doch um in diesem Wust von Arten
sich rettungslos nicht zu verliern,
muss den gewalt’gen Lebensgarten
man radikal erst reduziern.

Gedanklich nur, ums gleich zu sagen,
nicht, wie man’s aus der Schule kennt,
mit Piff, Paff, Puff und Funkenschlagen
in ‘nem Labor-Experiment.

Nein, einfach nur mal angenommen,
die Welt verging, wär mausetot,
und wären bloß davongekommen
zwei Menschen, zwei, mit knapper Not!

Zerfetzt in Trümmern liegt und Scherben
der einst so stolze Erdenbau –
und diese ihre einz’gen Erben:
im besten Alter, Mann und Frau.

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Man kann sich denken, dass die beiden,
in dieser Gottverlassenheit
ihr Los erträglicher zu leiden,
sich näherkamen mit der Zeit.

So nahe, dass den Samen säten
sie eines Tages kunstgerecht,
dass die Milliarden Hingemähten
ersetz ein künftiges Geschlecht.

Mit einem Wort, sie wurde schwanger,
und da sonst nirgends Hilfe war,
auf irgendeinem öden Anger
den kleinen Engel sie gebar.

Jetzt einmal messerscharf geschlossen:
Sofern auch ich schon längst verblich
mitsamt den andern Erdgenossen –
dann bin das Neugeborne ich!

Denn jedem Wesen ist verliehen
die eigne Haut, die es umhüllt,
der es im Tod erst kann entfliehen,
wenn seine Lebenszeit erfüllt.

Ist’s aber noch darin gefangen
mit Leber, Magen, Herz und Niern,
hat’s das natürliche Verlangen,
als „Ich“ zu fühln und zu agiern.

Darauf sind alle eingeschworen
bis hin zur letzten Kreatur,
und sei in diese Welt geboren
wie dieses Kind – ‘ne einz’ge nur.

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Doch auch die Einsicht wir gewinnen:
Man kann nicht ungeboren sein.
Gestorben, wir dem Tod entrinnen
postwendend in ein neues Sein.

Nur wenn das Leben ausgerottet
wo immer auch mit Stumpf und Stiel,
wird auch die Zeugung eingemottet
und Mutter Erde wird steril.

Solang dies noch nicht eingetreten,
ist die Geburt indes ein Muss,
und welche Gene einen kneten
als Rätsel keine harte Nuss.

Wir denken einfach zu dem Paare,
das grad sein Kindlein wiegt zur Ruh,
dass es den Sachverhalt verklare,
uns noch ein weiteres dazu.

Das gleiche Schicksal wie beim ersten,
die gleiche Angst vor Einsamkeit,
und aufgeschwollen bis zum Bersten
die Dame ohne Umstandskleid.

In welchem Säugling aber stecke
ich meiner selber mir bewusst?
Im ersten, der die kurze Strecke
zum Mutterleib herausgemusst!

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Hier sehen ein Prinzip wir walten,
dem alles Leben unterliegt –
die Reihenfolge der Gestalten,
das heißt, wer wann ein Kind gekriegt.

Das zweite schon, das auch hienieden
als Ich geborn in eigner Haut,
ist von dem ersten so geschieden,
dass es als Du es nur erschaut.

Dabei sind die Naturgesetze
sozial und ethisch völlig blind,
verteilen die verschiednen Plätze
an die, die grad die Ersten sind.

Ein Königtum von Gottes Gnaden?
Dem Volke dies ins Ohr man blies,
wenn man, in Schätzen sich zu baden,
statt Brot es Steine fressen ließ.

Auch hier spielt ihre stumme Rolle
mit großem Gleichmut die Natur –
‘ne Krone drückt sie auf die Tolle
wem nach besagter Regel nur.

Man nehme wieder die zwei Paare,
doch diesmal aus verschiedner Schicht –
das eine, reine Dutzendware,
das mit der Nadel näht und sticht.

Das andre, höchste Adelsklasse
(das erste schmilzt nur so dahin!),
genau das Gegenteil von Masse:
ein König und ‘ne Königin.

Und nun der Wettstreit im Gebären,
der ganz auf meine Kosten geht:
Wer wird an seiner Brust mich nähren –
Modistin oder Majestät?

Wird erst die Schneidrin niederkommen,
dann bin ich eben Kunz und Hinz,
die Felle sind mir weggeschwommen –
der nächste Schreihals ist der Prinz!

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Und was wir nun herausgefunden,
ist auf die Menschen nicht beschränkt –
das Sein von Mäusen, Katzen, Hunden
genauso gut am Zeitpunkt hängt.

Man muss nur wieder Paare bilden –
die Wirkung bleibt sich immer gleich
egal auf welchen Erdgefilden,
im Tier- sowie im Pflanzenreich.

Und Neues kann zudem nur sprießen
aus dem lebend’gen Erdenflor –
wenn Trockenblumen wir begießen,
wächst auch kein frischer Spross empor.

Es mag wohl manchem Trost bereiten,
dass niemals er als Saurier schlüpft,
doch lausig sind auch unsre Zeiten,
da man als Floh und Kröte hüpft.

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Geborn, sind stets wir unter Vettern,
wie Darwin sie uns aufgehalst,
und in demselben Stammbaum klettern,
wo alles ständig frisst und balzt.

Doch was verständlich wohl im Kleinen,
wie überträgt man’s auf die Welt?
Milliarden Wesen, will mir scheinen,
man doch nicht auseinanderhält?

Hat die Befruchtung stattgefunden,
ist alles Weitre festgelegt,
dann wird ein Junges mal entbunden,
das ganz nach seinen Eltern schlägt.

Doch bei der Fülle der Gepaarten
an jedem Ort, zu jeder Zeit
ergibt sich aus der Zahl der Arten
nur ‘ne Geburtswahrscheinlichkeit.

Gewiss lässt immerhin sich sagen,
dass oft Jahrhunderte vergehn,
bis wieder wir mit Schlips und Kragen
maskiert auf dieser Bühne stehn.

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Ein Fazit dieser kurzen Lehre:
Als Ich man durch die Zeiten wallt,
unsterblich wie der Gott der Meere
und auch ein Proteus an Gestalt.

Und wenn uns nach verfallnem Lose
der Abschied immer bitter wurd,
stirbt sich’s doch sanft wie in Narkose
in das Erwachen der Geburt.

Wir wissen niemals, was wir werden,
und brauchen schon im eignen Sinn
Respekt vor allem, was auf Erden
vielleicht ich grade selber bin.

Das funktioniert auch ohne Seele,
die nach der Trennung Ausschau hält;
wenn ich aus diesem Sein mich stehle,
mit Haut und Haar mein Leib zerfällt.

Es führt kein Draht zum nächsten Leben,
sie gibt sich sparsam, die Natur,
lässt kräftig uns nur noch mal heben
den Lethe-Trunk: Vergessen pur.

Dann öffnen wir erneut die Augen
als völlig unbeschriebnes Blatt,
es nach und nach so vollzusaugen,
bis wieder Text und Sinn es hat.

9

So leben ewig wir von innen,
in ständig neue Form gezwängt,
doch was auch immer wir beginnen,
es ist auf deren Frist beschränkt.

Du hast ein Weltreich dir erworben?
Dein Name wird unsterblich sein.
Doch wenn dein Sterbliches gestorben,
was weiß davon noch dein Gebein?

Du hast mit Schätzen dich beladen,
dass niemand mit Bewundrung spart,
doch an des Charon Styx-Gestaden
reicht schon ein As zur Überfahrt.

Jahrzehnte hältst mit straffem Zügel
in Händen du die Macht im Staat,
doch ruhst du erst mal unterm Hügel,
fragt dich kein Wurm nach deinem Rat.

Wenn wir wie Staub erst weggeblasen
den Dünkel unsrer Wichtigkeit,
dann müssten wir zufrieden grasen
im Zäunchen unsrer Lebenszeit.

O Karussell der Existenzen,
bei dem man nur die Plätze tauscht,
um einmal als Monarch zu glänzen,
ein andermal als Linde rauscht!

Das heißt, die Mächtigen von heute,
die großen Räuber vor dem Herrn,
sie zittern morgen schon als Beute
und fluchen ihrem Unglücksstern.

Zwar liegt das Mittel schon auf Lager:
‘ne Welt, für alle lebenswert –
doch wird’s wohl erst zum Kassenschlager,
wenn es des Menschen Säckel mehrt.

So weit. Wer’s fassen kann, der fasse
als Schub es im Gedankenstau –
vielleicht sogar als Rettungsgasse
aus alter Götter Nabelschau!