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Der unbekannten Leserin

der-unbekannten-leserin-picassoIhr kennt mich schon, ihr zwei, drei Leser,
und meine Klaue, Stil genannt,
wisst, dass Murano mir durch Gläser,
Burgund durch Flaschen wohlbekannt.

Euch ist die Küche nicht verborgen,
die zum Parnass ich mir erwählt,
Apolls Geschäfte zu besorgen,
bei denen nur der Wohlklang zählt.

Und was ich an Gedanken hege,
gesteh ich euch ja frank und frei:
der Seele wundersame Wege
durch Wiesen und durch Wüstenei.

Mein Äußres hab ich euch beschrieben,
damit ihr mich leibhaftig seht,
nicht als Phantom, das, umgetrieben,
sich nur in Tintenspurn verrät.

Hab hautnah euch herangelassen
bis an den tiefsten Lebenskern,
wie einer, gleichsam anzufassen,
und nicht wie von ’nem andren Stern.

(Ganz sicher gibt es da auch Stellen,
an die ich euch kein Licht gesteckt.
Auch die würd ich euch gern erhellen –
hätt ich sie selbst nur erst entdeckt!)

Da lieg ich vor euch auf dem Blatte,
durchleuchtet wie von Röntgenlicht,
wie im Versuchslabor ’ne Ratte,
die man aufs Rad der Weisheit flicht.

Ein offnes Buch. Da ihr hingegen
mit sieben Siegeln mir versperrt,
ihr zwei, drei Leser, derentwegen
so viele Verse ich geplärrt.

Was hat zum Kuckuck euch bewogen,
grad diesen euer Ohr zu leihn,
die mit Sonetten und Eklogen
der höhren Dichtung nichts gemein?

Wie gern läs ich in eurer Seele,
wie ihr in meinen Zeilen lest,
dass sie mir klipp und klar erzähle,
was für ein Wind euch zu mir bläst!

Indes, bei näh’rem Überlegen
wär es wohl besser, wenn’s so blieb –
wer weiß, ob Freundschaft nur zu pflegen,
nicht nach dem Munde ich euch schrieb?

Drum weiter in gewohnter Weise
frisch einfach von der Leber weg –
nicht für blasierte Kennerkreise,
doch für das Herz am rechten Fleck!