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Zeitreise

Man müsste beide sie erfahren,
das Heute und das Gestern auch,
das heißt die Zeit vor tausend Jahren –
direkt, in praktischem Gebrauch.

Nur derart könnte man erreichen,
dass echter Sachverstand im Spiel,
und die Epochen recht vergleichen
nach Umwelt und nach Lebensstil.

Ob sie so finster denn gewesen,
die mittelalterliche Welt,
wie wir in vielen Wälzern lesen,
sei erst einmal dahingestellt.

Wohl wahr, die Menschen damals litten
mehr Mühen, als man denken kann,
gebückt sie durch den Alltag schritten,
und früh kam sie das Reißen an.

Die Wohnung war den Wetterlaunen
von Frost und Hitze ausgesetzt,
in Betten ohne Duft und Daunen
hat sich die Haut an Stroh gewetzt.

Die Speise, bis auf Feiertage,
erregte keinen Futterneid.
Dass man am Hungertuche nage,
galt nicht nur für die Fastenzeit.

Ob aber heut sie lieber lebten,
hätten die Zukunft sie geschaut,
und nicht doch an der Scholle klebten,
die ohne Trecker sie bebaut?

Die Flur, die pflügend sie durchmaßen
mit ihrem Ochsen oder Pferd,
sie ist ja eingeschnürt von Straßen,
grau asphaltiert und pechgeteert.

Ihr Dörfchen, das in Mist versunken
noch tiefer als ein Storchennest,
hat lange nicht so fies gestunken
wie’n Dieseltruck beim Abgastest.

Und an des Jahres seltnen Festen,
wenn Fleisch man aß statt Haferbrei,
konnt man sich weidlich daran mästen,
da es noch völlig schadstofffrei.

Wie still die Landschaft vor den Toren!
Und welche Frische sog die Brust!
Das Lied der Vögel klang den Ohren
wie’n Hymnus auf die Wanderlust!

Noch drehte sich kein Autoreifen
in einem dichten Pistennetz,
dass außerhalb von Zebrastreifen
Passanten er in Schrecken setz.

Noch gab es keine Flügelkiste
mit nichts als Winden unterm Kiel,
die samt der ganzen Gästeliste
gelegentlich vom Himmel fiel.

Noch wuchsen nicht mit finstren Mauern
Fabriken aus dem Wiesengrund
wie Monster, die auf Beute lauern,
Rauch geifernd schon aus Schlot und Schlund.

Vor allem aber muss entsetzen,
dass man schon auf Reserve fährt
und ziemlich sicher abzuschätzen,
wie lang die Kugel uns noch nährt.

Nun, wie ich tadle so und preise,
bildet sich schon ein Urteil aus:
Ich pfeife auf die Wurmloch-Reise
und bleib im Heute nur zu Haus.

Ist nicht beim Schrecklichsten, beim Sterben,
der Mensch zu allen Zeiten gleich?
Dann lieber ehrlich ins Verderben
als in ein falsches Himmelreich.

Kirchgänger

kirchgaenger-wilhelm-leiblZur Kirche noch mit flinkem Schritte
der Bürger hier zur Messe strebt,
allein, zu zweit, Kind in der Mitte,
und wie vom heil’gen Geist belebt.

Was hat der Tempel groß zu bieten?
Was seiner Priester Sprachgewalt?
Die harten Bänke der Quiriten,
das Wort, das zwei Millennien alt?

Man fläzt sich nicht in Luxussesseln
und lauscht dem neusten Forschungsstand,
nein, fröstelnd zieht es um die Fesseln
beim „Auszug aus Ägypterland“.

Und ändert man die Rückenlage
die schmerzlich sich am Holze stößt,
straft Gott mit einer neuen Plage
den Gläubigen, der lieber döst.

Was angesichts der Rituale,
die da ermüdend durchgekäut,
doch, Herr, verzeih, nicht als fatale
Verfehlung gelt der guten Leut!

Sie bleiben schließlich bei der Stange
trotz säulenheil’gem Sitzkomfort
und einem Sermon, der schon lange
als Wurm sich etabliert im Ohr.

Just die Geduld sie ja beweisen,
die man den Engeln unterstellt,
die pausenlos den Höchsten preisen,
weil ihr Gehudel ihm gefällt.

Nichts kann sie aus der Ruhe bringen
in ihrer schönen Illusion,
sporadisches Chorälesingen
genüge zur Erlösung schon.

So hat’s vortrefflich eingefädelt
der Pfaffen findiges Geschlecht:
Der Schwanz stets mit dem Hunde wedelt –
und wer’s nicht glaubt, der glaubt nicht recht.

„Wir, die des Himmels Botschaft hören,
die eure Seele nicht empfängt,
auch jene Wahrheit euch beschwören,
die den profanen Logos kränkt!

Noch Zweifel? Unsre Folterknechte
zerstreuen ihn auf ihre Art:
Zwei, drei Bartholomäusnächte,
dann bleibt er künftig euch erspart.

Und zu des Glaubens Schirm und Schilde,
dass Ketzerei er widersteh,
gebrauchen wir in unsrer Milde
auch schon mal ein Autodafé.“

Jahrhunderte nichts als gelogen,
gefälscht, geheuchelt und verdreht,
dass sich die Kirchenbalken bogen
vom Morgen- bis zum Nachtgebet.

Und diesen Fummeln, diesen Kutten
macht dennoch alle Welt die Cour?
Was Wunder, dass schon dem von Hutten
dies „Heil’ge Einfalt!“ einst entfuhr!