Charaktere

CharaktereDas rechnet’ an ich mir zur Ehre,
der Dichterkrönung würdig fast:
im Vers zu zeichnen Charaktere
so wie in Prosa Theophrast.

Der Weise: Stets bereit zu raten,
weil er schon alles durchgedacht
und schnuppert glücklich jeden Braten,
bevor er auf den Herd gebracht.

Der Aktivist: Stets auf den Beinen,
dass er die Welt am Laufen hält,
die doch im Großen wie im Kleinen
trotz seiner nicht zusammenfällt.

Der Geiz’ge: Der mit hartem Herzen
auf dem gespickten Säckel thront,
sich jenen Reichtum zu verscherzen,
mit dem nur Dankbarkeit belohnt.

Der Neider: Dass er alles hätte,
woran der Nachbar sich erfreut,
der ja vom silbernen Tablette
tagtäglich Manna wiederkäut.

Der Eitle: Will Bewund’rung haschen,
weil er sich unvergleichlich weiß,
und gibt mit goldenen Gamaschen
sich billig nur dem Spotte preis.

Der Starke: Lässt die Muskeln spielen
und legt sich mit dem Teufel an,
um eine Wirkung zu erzielen,
die sanft er leichter haben kann.

Der Prahler: Führt nur auf der Zunge,
was selbst mit Lorbeer ihn belaubt,
und strapaziert die Pferdelunge
mit Sprüchen, die ihm keiner glaubt.

Der Intrigant: Beim Ränkeschmieden
von äußerst biegsamem Gemüt,
doch lässt das Wasser häufig sieden,
bis er sich selber dran verbrüht.

Der Schwätzer: Wälzt und wälzt die Worte
und wiegt sie auf der Zunge nicht.
Aus seiner Gurgel offner Pforte:
Ein Redeschwall, der Bände spricht.

Der Fromme: Gottes Lohn im Auge,
wie er nur dem Bekenner winkt,
seift er sich mit der Tugendlauge,
die säuerlich zum Himmel stinkt.

Der Eifersücht’ge: Der beflissen
beäugt des Weibes Ehrbarkeit,
indes sein männliches Gewissen
ihn selbst von Treue treu befreit.

Der Stolze: Lässt Verachtung spüren
den, der das Wasser ihm nicht reicht
und der doch auch bezahlt Gebühren
und einst wie er im Grabe bleicht.

Was? Auch vom Dichter wollt ihr hören?
Gewiss, das ist ein Fall für sich.
Doch Mitternacht! Ich könnte schwören,
ihr schlaft jetzt erst mal – so wie ich.

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